Den Titel seines neuen Albums hat Carlos Cipa bei Kurt Tucholsky entliehen, die Zeile stammt aus Augen in der Großstadt, “a wonderful poem”, so Cipa, wir drucken es hier ab. Und bebildern es mit einer Szene des viel vergessenen Malers Lesser Ury, einem der ersten, der elektrisches Licht, Schein und Widerschein künstlerisch reflektiert hat.
Kurt Tucholsky
Augen in der Großstadt [1930]
Wenn du zur Arbeit gehst
am frühen Morgen,
wenn du am Bahnhof stehst
mit deinen Sorgen:
dann zeigt die Stadt
dir asphaltglatt
im Menschentrichter
Millionen Gesichter:
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider –
Was war das? Vielleicht dein Lebensglück…
vorbei, verweht, nie wieder.
Du gehst dein Leben lang
auf tausend Straßen;
du siehst auf deinem Gang,
die dich vergaßen.
Ein Auge winkt,
die Seele klingt;
du hast’s gefunden,
nur für Sekunden…
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider –
Was war das? Kein Mensch dreht die Zeit zurück…
vorbei, verweht, nie wieder.
Du mußt auf deinem Gang
durch Städte wandern;
siehst einen Pulsschlag lang
den fremden Andern.
Es kann ein Feind sein,
es kann ein Freund sein,
es kann im Kampfe dein
Genosse sein.
Es sieht hinüber
und zieht vorüber…
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider –
Was war das? Von der großen Menschheit ein Stück!
Vorbei, verweht, nie wieder.
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Kurt Tucholsky: „Gedichte“. Herausgegeben von Mary Gerold-Tucholsky. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1992