Er lässt sich bis heute nicht verrechnen, nicht auf Ambient, nicht auf New Age, nicht auf Balearic und auch nicht auf Moderne Klassik, warum? Weil er nach wie vor einer der innovativsten und eigenwilligsten Künstler ist in der Szene. Was er macht, macht er “wie früher, als es noch niemanden kümmerte”. Hier seine Geschichte — völlig untypisch, darum urtypisch:
“Meine Eltern haben einfach nicht verstanden, warum ich Musik studieren wollte. Sie glaubten, Musiker zu werden sei eine dumme Idee. Ich musste meinen eigenen Weg finden, das war nicht so einfach.”
Das ist jetzt ein halbes Jahrhundert her, dass besorgte Eltern in Venedig saßen und versuchten, ihren Sohn auf die Pfade der 9 to 5‑Jobs zu locken. Heute ist Gigi Masin eine Legende. Keine, die andauernd im Radio gespielt wird, sondern eine, die alle kennen, die gerne einmal im Radio gespielt werden würden: Gigi Masin ist ein anderes Wort für elektronische Musik.
Seine ersten Experimente in den späten 70ern: Klangcollagen, er arbeitet mit Tonbandschleifen, Feldaufnahmen und Turntablism für kleinere Theater in Venedig, ein andauerndes Experiment. Es erlaubte ihm, eine neue Sprache zu entdecken — eine, die anders klang als die, die er anfangs erlernen wollte, die Sprache der Gitarristen und Geiger.
Schwierig, ein Publikum zu finden für eine Sprache, die niemand spricht außer man selbst. 1987 veröffentliche Masin sein Debütalbum „Wind“. In Italien — Land der Hoch- und Höchstkultur: Verdi! Juventus! Scala! Callas! Versace! — fiel es dadurch auf, dass es nicht auffiel. Italien war „behäbig und traditionell“, nirgends Sinn und Geschmack für Avantgarde — seine Musik auf „Wind“ ist zurückgenommen, kahl, fast fremdartig in ihrer Stille. Mit dem gleichmäßigen Puls seines geliebten Korg Poly-800, der um ihn herum in den Lagunen von Venedig widerhallt.
„Wind“ gewann dann aber Kultstatus unter den Late-Night Radiohörern, sie hörten darin die sanften Echos der venezianischen Landschaft, sie erkannten die Sicht des Sohnes dieser Stadt. Ein seltenes Artefakt in einer Welt, in der das platonische Venedig von Künstlern auf der ganzen Welt gehört und gesehen werden kann, in der aber Bilder und Klänge des wirklichen Venedigs so gut wie nicht mehr zu finden sind.
Gigi hat seinen Sound freigegeben. Wer ihn hören will, kann ihn hören. Dann sein 1989 Album für Sub Rosa, gemeinsam mit Charles Hayward von This Heat und Les Nouvelles Musiques Du Chambre produziert, es nahm ein Eigenleben an, als sein Stück „Clouds“ von Björk gesampelt wurde, von To Rococo Rot, von Nujabes und Black Eyed Peas und Post Malone … Gigantische Resonanz, Gigi blieb im Verborgenen. Keine Frontscheinwerfer.
Anfang der 90er, er gründet eine Familie, ernährt sie und sich mit einem Job bei der Post, die Musik rückt in die Hinterzimmer. Dann die Tragödie, 2007 zerstört eine Überschwemmung — wir reden von Venedig — den größten Teil seines Archivs, die Bänder und Platten und Memorabilien. Er rettete, was er retten kann und setzt sich zum ersten Mal an den Computer … Damit beginnt die nächste Phase der Innovation:
2014 veröffentlichte Gigi Masin auf dem niederländischen Label Music From Memory „Talk To The Sea“, es ist eine Retrospektive des eigenen Schaffens, das beinahe völlig weggeschwemmt worden wäre. Erstmals stößt er auf etwas, das neu war für ihn: nicht nur Hörer zu finden irgendwo im Netz, nicht nur andere Künstler, die ihn sampeln, sondern unmittelbare Anerkennung. In den Medien. Von Persönlichkeiten wie etwa Devendra Banhart, der erklärte, er höre das Album täglich, Gigis Musik “repräsentiert das gesamte Spektrum an Emotionen, die ich als Musikfan suche”.
Durch das Label lernte Gigi den britischen Produzenten und Labelchef von Melody As Truth kennen, Jonny Nash, und den niederländischen Kult-DJ und ‑Produzenten Marco Sterk (Young Marco) — ” Freundschaft auf den ersten Blick”. Sie mussten sich nur in ein Studio setzen und “die Musik den Raum füllen lassen”.
Und so ging es weiter und weiter, zurück in Italien, wo er in der Nähe von Venedig lebt — den Job bei der Post hat er inzwischen wieder aufgegeben — nahm er Kontakt zu Luciano Ermondi und Paolo Paolo Mazzacani auf, sie produzieren gemeinsam zwei Alben für das italienische Label Hell Yeah, dann tritt Gigi als Teil von Lifted auf, einer Gruppe unter der Leitung von Future Times Gründer Andrew Field-Pickering (Max D / Beautiful Swimmers), zu der auch Matthew Papich (Co La), Jeremy Hyman (Avey Tare´s Slasher Flicks), Motion Graphix, Jordan Czamanski (Juju & Jordash) und Dawit Eklund (1432 R) gehören. Große Namen, eine Reihe von Singles, Auftritte auf Festivals zusammen mit Oneohtrix Point Never und Devendra Banhart …
Was Gigis Geschichte erzählt? Allen, die in irgendwelchen Kellern sitzen und an elektrischen Geräten rumfuckeln? Erzählt sie euren Eltern, die euch vielleicht enterben werden, was soll’s, ladet sie ein zum Konzert: Wenn es möglich ist, aus dem Thema der Gegenwart — Strom-An Strom-Aus — Musik zu machen, etwas, das einem mehr und anderes erzählt vom Leben, als sich jemals einfügen ließe zwischen 9 to 5, dann …
Gigi Masin lässt sich bis heute nicht verrechnen, nicht auf Ambient, nicht auf New Age oder Balearic und nicht auf Moderne Klassik, er ist nach wie vor einer der innovativsten und eigenwilligsten Künstler in der Szene.
Was er macht, macht er “wie früher, als es noch niemanden kümmerte”.